18.12.2023

Theo will hören! Hochmoderne Cochlea-Implantate eröffnen einem 2,5-jährigen Jungen die Welt der Hörenden

Als Theo W. zwei Jahre alt war, konnte er immer noch kein Wort sprechen. Die Eltern waren ratlos, denn zu diesem Zeitpunkt wussten sie noch nicht, dass ihr Sohn gehörlos zur Welt gekommen war. Erst eine Untersuchung im Hörzentrum des Universitätsklinikums rechts der Isar in München brachte Klarheit darüber. Und: Die Spezialist*innen dort konnten dem Jungen helfen: In einer rund 3,5-stündigen Operation setzten sie ihm zwei Cochlea-Implantate ein – und schenkten ihm so ein Gehör. Damit stehen die Chancen gut, dass Theo bald erste Wörter sprechen kann.
Kleiner Junge mit Schnuller und Cochlea-Implantat, dahinter seine Ärztin knieend
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Neulich, Theo war tief in sein Spiel vertieft, da fuhr ihm der Schreck durch alle Glieder: ein lauter Knall von draußen, der Junge zuckte zusammen. „Da hab‘ ich vor Freude geweint“, erzählt seine Mutter Sandra W. (42). Denn Momente wie diese lassen sie Hoffnung schöpfen: Darauf, dass Theo, zweieinhalb, endlich hören kann, was um ihn herum geschieht, dass er die Stimme seiner Mutter hört und dass er irgendwann auch selbst beginnt, lautsprachlich zu kommunizieren, so wie es für andere Kinder in seinem Alter längst normal ist. Theo ist jedoch gehörlos auf die Welt gekommen – er soll es aber nicht bleiben.

Ein komplexes technisches System, ein Cochlea-Implantat (CI), das auf den ersten Blick wie ein konventionelles Hörgerät aussieht, öffnet Theo seit Kurzem die Tür zur Welt der Klänge und Geräusche. Anders als ein klassisches Hörgerät, das den Schall nur verstärkt und ans Trommelfell weiterleitet, ersetzt diese Technik die Funktion des Innenohrs (siehe unten „Stichwort Cochlea-Implantat“).

Zwar reicht die Auflösung der Signale eines Cochlea-Implantats bei Weitem nicht an die eines gesunden Innenohres heran. Aber in der Praxis lernt das Gehirn meist erstaunlich gut, sich aus diesen elektrischen Impulsen ein akustisches Bild von der Welt zu machen.

Theo muss jetzt nachholen, was ein Neugeborenes automatisch lernt

Theo steht hier noch am Anfang: Wie unterscheidet sich das Rumpeln einer Waschmaschine von der Stimme der Mutter? Welchem Ereignis lässt sich ein Knistern, ein Knall oder ein langgezogener Ton zuordnen? „Theo hat jetzt das nachzuholen, was ein Neugeborenes ganz automatisch lernt“, erklärt Privatdozentin Dr. Nora Weiss, die das Hörzentrum an der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM) leitet.

Theos Mutter beobachtet überglücklich die ersten Erfolge. „Momentan mag er ganz gerne laute Geräusche, also: Er klopft gerne. Davor hat sich seine ganze Welt immer nur ums Fühlen gedreht“, erzählt sie. Früher legte der Junge mit den dunkelbraunen Haaren und dem ernsten Blick oft die Hand an die Waschmaschine – um die Vibration zu fühlen. Heute steht er daneben und lauscht. Und in der Kinderkrippe, wo er zuvor meist lieber allein gespielt hat, geht er heute auf andere Kinder zu. Vor allem aber: Theo, der bisher kaum einen Laut von sich gab, sogar als Baby nur selten geweint oder geschrien hat, beginnt allmählich, selbst Geräusche zu machen. „Und dann fängt er auf einmal an zu lachen und kann gar nicht mehr aufhören“, sagt seine Mutter überglücklich.

Theo mit Dr. Nora Weiss
Wasser im Ohr? Der Neugeborenen-Hörtest scheitert

Bis dahin war es ein weiter Weg. Mehr als zwei Jahre hat Sandra W. dafür gekämpft, dass ihr Sohn endlich die Hilfe bekommt, die er braucht. Sie spürte, dass etwas nicht stimmt. Doch immer wieder rieten ihr Ärztinnen und Ärzte zum Abwarten. „Theo war ein Nachzügler“, erzählt die 42-Jährige, die schon zwei erwachsene Söhne hat. Die Schwangerschaft verlief „völlig problemlos“. So war Theos Mutter zunächst auch nicht sonderlich beunruhigt, als der Hörtest beim Neugeborenen-Screening scheiterte. „Wasser im Ohr – so etwas kommt vor“, hieß es. Der Kinderarzt schickte sie zum HNO-Arzt. „Der hat dann auch gesagt, er könne nichts feststellen; es könnte ja noch Flüssigkeit im Ohr sein. Ich solle nochmal warten.“

Theo war schon ein Vierteljahr alt, als der HNO-Arzt Sandra W. zu einem Pädaudiologen schickte, also einem Experten für Hör- und Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern. Er konnte ebenfalls nichts messen. Inzwischen war Theo die Untersuchungen leid. „Er hat geweint und geschrien, wenn man seine Ohren angefasst hat. Und dann hieß es: Er ist nicht kooperativ, da kann man nichts messen, ich soll mit ihm üben“, erzählt die Mutter. Ein Jahr lang tingelte sie von Facharzt zu Facharzt – „von Dachau bis Neuperlach habe ich jeden durch“, sagt sie. Und während die Mediziner*innen sie immer wieder vertrösteten, beobachtete sie mit wachsender Sorge, dass Theo stumm blieb. „Jedes Kind fängt doch in dem Alter zu brabbeln an oder sagt die ersten Worte“, sagt sie. „Und außerdem war er immer total auf das fokussiert, was er gerade gemacht hat. Ich musste ihn dann berühren, damit er zu mir schaut. Wenn er mich nicht angesehen hat, hat er mich nicht wahrgenommen.“

Eine Hirnstamm-Audiometrie liefert den Beweis

Die Kinderärztin war es schließlich, die Sandra W. auf das Hörzentrum des Universitätsklinikums rechts der Isar aufmerksam machte. „Da haben sie mir dann von der BERA-Untersuchung erzählt“, sagt Theos Mutter. „Davon hatte ich vorher nie gehört.“ Bei dieser sogenannten Hirnstamm-Audiometrie wird das Ohr mit Klickgeräuschen stimuliert. Doch statt die Reaktion der Patient*innen nur zu beobachten, messen die Mediziner*innen mit einem Elektroenzephalogramm (EEG) die Antwort des Gehirns, während der Patient oder die Patientin schläft. „Bei ganz kleinen Kindern geht das oft im Vormittagsschlaf“, sagt Dr. Nora Weiss. „Bei Theo mussten wir das unter Narkose machen.“

Die Messung der Hirnströme zeigt: Es kommt kein Signal vom Ohr im Hirn an. Damit stand fest: Der Jungen ist vollkommen taub. „Auf der einen Seite ist man erleichtert, dass man endlich weiß, was los ist, auf der anderen Seite bricht eine Welt zusammen“, beschreibt Sandra W. ihre Gefühle beim Befundgespräch.

PD Dr. Nora Weiss setzt Theo im OP-Saal zwei Cochlea-Implantate ein
In einer rund 3,5-stündigen Operation wurden Theo von PD Dr. Nora Weiss von der HNO-Klinik am Universitätsklinikum rechts der Isar der TUM zwei Cochlea-Implantate eingesetzt. Foto: Kathrin Czoppelt, Klinikum rechts der Isar ©
Fünf Wochen nach der Untersuchung folgt die Implantation

Danach geht alles ganz schnell: Schon fünf Wochen nach der Untersuchung setzen die Spezialist*innen der HNO-Klinik Theo in einer rund 3,5-stündigen Operation zwei Cochlea-Implantate ein. Vier Wochen später sind die kleinen OP-Narben hinter dem Ohr verheilt. Nun werden Theo erstmals die zugehörigen Außenprozessoren aufgesetzt: Sie verhelfen ihm zu völlig neuen Sinneseindrücken.

Seither kommt Sandra W. mit ihrem Sohn regelmäßig ins Hörzentrum zur Nachsorge. Sie weiß, dass sie noch viel Geduld brauchen wird: „Wenn Theo innerhalb des nächsten Jahres die ersten Worte spricht, sind wir zufrieden“, sagt auch Dr. Sabrina Regele, Leiterin der Pädaudiologie im Hörzentrum. Ein Reha-Programm in Kooperation mit dem kbo-Kinderzentrum in Großhadern soll bestmögliche Erfolge sichern.

Es sei tragisch, dass die Mutter so lange immer wieder vertröstet worden sei, sagt Dr. Regele. Denn Eile sei geboten: „Die Sprachentwicklung ist mit fünf Jahren abgeschlossen. Was man bis dahin nicht gelernt hat, kann nicht nachgeholt werden“, warnt sie. Womöglich, so glauben die beiden Ärztinnen, sei noch nicht in allen Facharztpraxen bekannt, welche Fortschritte die CI-Technologie gerade in jüngster Zeit gemacht habe (siehe Experten-Interview im Anhang).

Sandra W. blickt nach vorn und ist dankbar für die Unterstützung, die sie im Hörzentrum erfährt. „Ich bin selber erstaunt, woher die diese Geduld haben“, sagt sie. „Man hat sich die Zeit genommen, mir jede Frage zu beantworten. Ich fühle mich super aufgehoben.“

Die ruhige Art, mit der das Team des Hörzentrums gerade auf die kleinen Patient*innen zugeht, mag auch in Theo nach all den schlechten Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre eine positive Grundstimmung geweckt haben. „Zwei-, dreimal ist es schon passiert, dass er selber nach den Prozessoren gegriffen und sie sich angelegt hat“, erzählt Sandra W.. Denn: Theo will hören! Und bald auch sprechen. Die Ärztinnen Nora Weiss und Sabrina Regele werden ihr Bestes dafür geben.

Mutter mit Kind auf dem Arm bei einer Untersuchung des Innenohrs
Theo mit seiner Mutter Sandra W. bei einer Kontrolluntersuchung im Hörzentrum der HNO-Klinik am Universitätsklinikum rechts der Isar der TUM Foto: Kathrin Czoppelt, Klinikum rechts der Isar ©
Stichwort „Cochlea-Implantat“

Ein Cochlea-Implantat (CI) ist ein zweiteiliges Gerät, das zum Einsatz kommt, wenn konventionelle Hörgeräte nicht weiterhelfen, weil das Ohr keine oder nur unzureichende Informationen ans Gehirn weiterleitet. Es ersetzt damit also das eigentliche Hörorgan im Innenohr – bei keinem anderen der menschlichen Sinne ist dies bisher gelungen.

Der äußere Teil des Geräts, der Signalprozessor, wird ähnlich wie ein Hörgerät hinter dem Ohr getragen. Er nimmt die Umgebungsgeräusche auf und bereitet sie elektronisch auf. Dann leitet er die Signale durch ein dünnes Kabel zu einer Sendespule von der Größe einer Euromünze. Sie haftet magnetisch an dem Implantat, das unter der Kopfhaut im Schädelknochen eingebettet ist – meist schräg hinter dem Ohr unter dem Haaransatz, der die kleine OP-Narbe verdeckt. Das Implantat empfängt die Signale und gibt sie mit einer Hightech-Elektrode direkt an den Hörnerv weiter. 

Die Technik gibt es bereits seit den 1970er-Jahren, doch gerade in jüngster Zeit haben OP-Techniken und die elektronische Aufarbeitung der Signale enorme Fortschritte gemacht. Inzwischen, so die Leiterin des Hörzentrums, Dr. Nora Weiss, statte man selbst Menschen, die noch ein Resthörvermögen haben, mit Cochlea-Implantaten aus und beobachte sehr positive Auswirkungen auf ihre Sprachentwicklung. Bei Erwachsenen mit nachlassender Hörleistung ist es wichtig, ein Cochlea-Implantat einzusetzen, bevor die Hörerinnerung zu sehr verblasst.