22.02.2023

„Die Muttersprache ist ein Stück Heimat und Sicherheit“ - Hilfe für traumatisierte Geflüchtete aus der Ukraine in ihrer eigenen Sprache

Vor einem Jahr, am 24. Februar 2022, hat die russische Armee einen großangelegten Angriff auf die Ukraine begonnen: Seither haben Millionen Menschen durch diesen Krieg ihre Heimat verloren; viele haben in der Ukraine und auf der Flucht in den Westen Traumatisches erlebt. Das fremde Gesundheitssystem und die Sprachbarriere hierzulande machen es den Geflüchteten besonders schwer, psychologische Unterstützung zu erhalten. Anders am Universitätsklinikum rechts der Isar: Hier berät seit April 2022 Diplom-Psychologin Olena Besserer Betroffene auch auf Ukrainisch und Russisch. In der Tagesklinik für Traumafolgestörungen der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie hat sie gemeinsam mit Prof. Martin Sack und Klinikdirektor Prof. Peter Henningsen ein aus Klinikumsmitteln finanziertes Hilfsangebot aufgebaut – um die Menschen besser zu erreichen.
Olena Besserer
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Frau Besserer, warum ist es für Menschen mit traumatischen Erfahrungen so wichtig, in ihrer eigenen Sprache über Erlebtes sprechen zu können?
In einem psychotherapeutischen Gespräch geht es oft um sehr persönliche Erfahrungen, um psychisches Erleben und Gefühle. Gefühle wie Ohnmacht, Wut, Angst, Scham oder Schuld spielen eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung des Erlebten. Es ist sehr schwer, darüber in Anwesenheit einer dritten Person zu sprechen, besonders dann, wenn Angehörige oder Bekannte übersetzen – die Patient*innen können versuchen, diese vor ihren traumatischen Erfahrungen zu schützen. Auch die Anwesenheit professioneller Dolmetscher*innen kann die therapeutische Beziehung beeinflussen. Viele Dolmetscher*innen sind zudem nicht ausreichend für das Thema Trauma sensibilisiert, wodurch weitere Risiken für Patient*innen und die dolmetschende Person entstehen können. Und: Im Krieg gegen die Ukraine hat Sprache für viele Betroffene eine wichtige emotionale, wenn nicht sogar existentielle Bedeutung.

Welche?
Die Bedeutung der eigenen Sprache, als wichtiges Symbol der nationalen Identität, ist vielen bewusst geworden. Einige meiner Patient*innen, die früher überwiegend Russisch gesprochen haben, sprechen heute im Alltag Ukrainisch. Sie suchen bewusst Hilfsangebote in ukrainischer Sprache. Das macht die Suche nach geeigneten Fachspezialist*innen und Dolmetscher*innen, zu denen sie Vertrauen aufbauen können, noch schwerer. In unseren Stunden verwenden wir die Sprache, in der sich der Patient oder die Patientin am wohlsten fühlt. Sprache gibt uns auch ein Gefühl von Heimat. Wenn Menschen so viel Traumatisches, so viele Verluste erlitten haben, bedeutet die Muttersprache in einem fremden Land auch ein Stück Heimat und Sicherheit. So lässt sich schneller eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufbauen, in der Belastendes ausgesprochen werden kann und – was auch oft vorkommt – in der auch mal geflucht, getrauert und geweint werden darf.

Unter welchen Beschwerden leiden Betroffene am häufigsten?
Die meisten unser Patient*innen zeigen Symptome einer Traumafolgestörung verschiedener Ausprägung. Dazu zählen oft Schlafstörungen, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme. Viele können sich daher im Deutschkurs oder in der Schule nur schwer konzentrieren. Vielen fällt es auch schwer, Freude oder Trauer zu erleben und sich für etwas zu motivieren. Manche haben heftige Stimmungsschwankungen und Albträume, weinen oft oder reagieren auf kleinste Veränderungen gereizt und wütend. Viele berichten auch über innere Unruhe, ein Gefühl ständiger Bedrohung, über stark belastende Erinnerungen, die oft in gewöhnlichen Alltagssituationen hochkommen und nicht kontrollierbar sind. Dazu kommt die Angst, verrückt zu werden. Wir unterstützen die Betroffenen dann, ihre Symptome als Reaktion auf die belastenden Ereignisse zu begreifen. Viele fühlen sich auch einsam: in ihrer Trauer, in ihrem Schmerz. Sie werden wütend oder bekommen Angst, weil sie nicht verstanden werden – selbst dann, wenn sie im Deutschkurs oder in ihrer Unterkunft auf Menschen treffen, die Ähnliches erlebt haben. Sie fühlen sich in zwischenmenschlichen Beziehungen einfach oft nicht mehr sicher und meiden Kontakte.

Wie unterstützen Sie psychisch belastete Geflüchtete?
Im Frühjahr 2022 ging es uns zunächst darum, einen Ort zu schaffen, wo Betroffene eine erste Krisenintervention, diagnostische Einschätzung und psychotherapeutische Unterstützung in ihrer Muttersprache erhalten. Wir helfen den Menschen dabei, eigene Ressourcen zu erkennen und zu nutzen. Wir unterstützen sie dabei, mit Verlust und Trauma umzugehen und vermitteln auch an niedergelassene Fachkolleg*innen und Beratungsstellen zu Themen wie Erziehung, Sucht, Wohn- und Sozialhilfe. Eine langfristige Psychotherapie können wir in unserer Ambulanz leider nicht anbieten. Oft reichen aber schon wenige Termine, um Patient*innen ausreichend Stabilität zu geben und ihnen dann weitere Hilfe zu vermitteln. In besonders schweren Fällen stehen wir auch für die weitere Begleitung und Unterstützung zur Verfügung. 

Die meisten Geflüchteten kamen vor allem wegen medizinischer Probleme ins Universitätsklinikum …
Ja, wobei wir schnell gemerkt haben, dass auch bei diesen Patient*innen psychotherapeutische Unterstützung auf Ukrainisch und Russisch dringend gebraucht wurde. Denn Kolleginnen und Kollegen verschiedener Stationen hatten sich an uns gewendet. Daher haben wir unser Angebot um einen psychosomatischen Konsiliardienst auf Ukrainisch und Russisch erweitert. Dabei geht es in erster Linie um Angstreduktion, psychotherapeutische Unterstützung, aber auch um Konfliktmanagement aufgrund kultureller oder sprachlicher Kommunikationsprobleme. Sie müssen sich vorstellen: Manchmal werden Patient*innen direkt nach schlimmsten Erlebnissen, Körperverletzungen, Verlust von Angehörigen oder einer anstrengenden, gefährlichen Flucht bei uns stationär behandelt. Sie verstehen die Sprache nicht, sind psychisch belastet und verängstigt. Sie verstehen nicht, wo sie sind und was mit ihnen gemacht wird. Das ist eine höchst belastende Situation. Wir versuchen diese Patient*innen psychotherapeutisch zu unterstützen und auf dem Weg der Genesung zu begleiten – und in manchen Fällen, wenn es um eine palliative Begleitung geht, auch auf dem Weg eines würdevollen Sterbens.

Viele Geflüchtete sorgen sich auch um Angehörige, die sie im Kriegsgebiet zurücklassen mussten. Wie lernt man, besser mit dieser Angst zurechtzukommen?
Es ist in der Tat enorm schwer, selbst in Sicherheit zu sein, aber keinen Einfluss auf die Sicherheit von Eltern, Kindern, Verwandten, Freunden oder auch Haustieren zu haben, die aus verschiedensten Gründen nicht ausreisen wollten oder mitgenommen werden konnten. Dazu kommt, dass viele zwar mittels Luftalarmwarn-App oder Social Media-Nachrichten über Gefahren in der Ukraine informiert bleiben, der Kontakt zu den Angehörigen aber oft nicht möglich ist. Sie wissen dann nicht, wo Angehörige und Freunde gerade sind und ob sie überhaupt noch leben. Das ist sehr belastend und ein wichtiges Thema auch in unseren Stunden. Manchmal hilft es unseren Patient*innen eine Art der inneren Verbindung mit den Menschen dort herzustellen, gewisse Rituale im Alltag einzubauen und unterstützende Vereinbarungen mit Verwandten vor Ort zu treffen. Die Angst bleibt trotzdem: Sie können sie nicht loswerden. Sie können nur versuchen, zu lernen, mit ihr weiterzuleben.

Die Sprechstunde richtet sich auch an Helferinnen und Helfer. Warum kommen auch sie manchmal an ihre Grenzen?
Dafür sehe ich mehrere Gründe: Einerseits sind viele Helfende sehr empathische Menschen; Sie fühlen sich angesprochen zu helfen, nehmen aber auch die eigene Ohnmacht wahr. Wenn sie dann Tag für Tag eng mit Betroffenen arbeiten und sich emotional nicht ausreichend abgrenzen können, steigt die Gefahr einer sekundären Traumatisierung oder ähnlicher Folgen. Wir haben festgestellt, dass Dolmetscher*innen oder Volontär*innen in sozialen und medizinischen Bereichen davon besonders oft betroffen sind. Dazu kommt, dass viele Helfende durch den Krieg gegen die Ukraine an eigene traumatische Erfahrungen erinnert wurden oder an die der eigenen Familie. Für Helfende ist es wichtig, ausreichend Selbstreflektion zu betreiben: Man muss sich klar werden, was einen zum Helfen bewegt. Man muss aber auch lernen, eigene Kräfte und Grenzen gut einschätzen zu können. Dabei hilft Supervision oder Intervision. Nicht zuletzt liegt es auch daran, dass wir alle beim Thema Krieg Gefühle wie Ohnmacht, Hilfslosigkeit, Angst und Kontrollverlust erleben – und somit in Kontakt mit unseren größten Ängsten kommen. Krieg missachtet und zerstört jegliche Grenzen. Daher ist es wichtig, Räume zu finden, wo man Gefühle erleben und aussprechen darf. Eine Psychotherapie in Einzel- oder Gruppenform bietet meist einen guten Raum dafür.

Symbolbild
Psychologische Hilfe in der eigenen Sprache: In der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik gibt es seit April 2022 eine ambulante Sprechstunde für traumatisierte Geflüchtete aus der Ukraine auf Ukrainisch, Russisch und Deutsch. Foto: Klinikum rechts der Isar ©