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News Neue App revolutioniert Therapie bei unspezifischen Rückenschmerzen
Rückenschmerzen, die allzu oft chronisch werden, seien „eine Volkskrankheit, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit“, sagt Prof. Dr. Dr. Thomas R. Tölle, Oberarzt in der Klinik und Poliklinik für Neurologie. Zudem leitet er das Zentrum für Interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZIS) am Universitätsklinikum rechts der Isar und ist Gesamtkoordinator des Forschungsprojekts „Rise-uP“. Allein Deutschlands Arbeitnehmer*innen häuften im Jahr 2019 rund 26 Millionen Fehltage wegen Rückenschmerzen an. Die multimodale Schmerztherapie – eine individuell abgestimmte Kombination aus Bewegung, Physiotherapie, Psychotherapie, Schmerzmittelbehandlung, Edukation und Entspannung – zeigt bei Rückenschmerzen gute Erfolge, ist aber für die Masse der Betroffenen nicht zu leisten. Nicht zuletzt fehlt es an Kapazitäten und Terminen für eine solche Behandlung. Ein großes Dilemma, sagt Tölle. Doch genau hier soll nun die „Kaia Rücken-App“ Abhilfe schaffen, entwickelt von zwei ehemaligen Studierenden der TUM in enger Abstimmung mit Tölle und seinem Team. Die App ist die Übertragung der multimodalen Schmerztherapie in eine digitalisierte Version. Sie macht das Smartphone zum „personal trainer“, der die Patient*innen zu Übungen motiviert und anleitet – wann und wo immer sie Zeit dafür haben. Dank künstlicher Intelligenz erkennt die App per Handy-Kamera sogar, wenn der Bewegungsablauf oder die Körperhaltung nicht optimal sind. Dann greift die Stimme des Trainers korrigierend ein. Daneben bietet die App umfangreiche Informationen zu gesundheitlichen und medizinischen Fragen. „Da kann man immer tiefer eintauchen“, erklärt Tölle.
Um herauszufinden, wie gut das Zusammenspiel von digitaler und klassischer Gesundheitsanwendung wirkt, startete Tölle zusammen mit den Krankenkassen AOK, BARMER und DAK in Bayern eine der weltweit größten Studien, die es im Bereich „digitale Versorgungskonzepte“ je gegeben hat: 1237 Patient*innen, davon 307 in einer Kontrollgruppe, wurden zwölf Monate lang untersucht; 111 Hausärzt*innen in ganz Bayern wurden für das Projekt gewonnen. Weitere Projektpartner*innen waren die Bayerische Telemed Allianz, Algesiologikum MVZ, StatConsult IT Service und Kaia Health. Das Institut für angewandte Versorgungsforschung (INAV) war als unabhängiger Evaluator im Einsatz.
Die dabei gesammelten Daten füllten eine gigantische Daten-Tabelle: „Da konnte man am Bildschirm minutenlang durchscrollen“, erzählt Tölle. Aus dieser Datenflut destillierten die Wissenschaftler einen Schatz der Erkenntnis: Im Vergleich zur Kontrollgruppe reduzierten sich die Schmerzen in der Interventionsgruppe nach drei Monaten und nach zwölf Monaten signifikant stärker als in der Kontrollgruppe; der Schmerzindex sank um 2,55 Punkte, was 46 Prozent Schmerzreduktion entsprach – also rund die Hälfte. Zugleich, so das Ergebnis der Studie, habe sich „Rise-uP“ auch bei der Linderung von Angst, Depression und Stress, die im Zuge von Rückenproblemen auftreten, als „signifikant überlegen“ gezeigt. Auch beim Vergleich von mentalem und körperlichem Wohlbefinden schnitt die neue Methode besser ab – und sie konnte häufiger verhindern, dass die Schmerzen chronisch werden. Und: All das erledigt die „Rise-uP“-Methode noch deutlich kostensparender als herkömmliche Vorgehensweisen – eine Einsparung von 416 Euro pro reduziertem Punkt im Schmerzindex errechneten die Wissenschaftler*innen für den Studienzeitraum, also ein beachtlicher 80-Prozent-Kostenvorteil für „Rise-uP“. Der 180-seitige Ergebnisbericht hat jüngst auch den Innovationsausschuss des G-BA überzeugt. Dass die Expert*innen nun klar empfehlen, Ansätze aus dem „Rise-uP“-Projekt in die Regelversorgung aufzunehmen, empfinden Tölle und sein Team als große Anerkennung nach sechs Jahren intensiver Arbeit.
„Rise-uP“ passt zudem ideal ins Konzept des Universitätsklinikums rechts der Isar: An vielen Stellen wird hier seit Jahren daran gearbeitet, mit innovativen Methoden und insbesondere mit den Möglichkeiten der digitalen Medizin die Versorgung von Patient*innen zu verbessern. In einer Online-Umfrage hat Tölle herausgefunden, dass dies bei Patient*innen ebenso gut ankommt wie in der Ärzteschaft. Angst, dass der vertraute Arzt oder die vertraute Ärztin durch einen Computer ersetzt werde, müsse niemand haben, sagt Tölle. Es gehe bei „Rise-uP“ auch nicht um Konkurrenz – im Gegenteil: „Die Physiotherapeuten sehen es als Ergänzung, und Ärzt*innen bekommen Unterstützung“.